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| occupy wall street aka 99 (per) cent |

Posted: Oktober 16th, 2011 | Author: | Filed under: word | No Comments »

Lincoln sagt, dass viele Menschen für eine gewisse Zeit zum Narren gehalten werden können, einige Menschen für eine lange Zeit, aber niemals ALLE Menschen für ALLE Zeit (vgl. ZEIT 42/11). Besteht ein (soziales) Ungleichgewicht für eine lange Dauer – sprich: eine große Gruppe von Menschen (99% stellt natürlich nur die Überspitzung einer doch historisch einmaligen Arm-Reich-Schere in den USA dar) wird seit Jahren strukturell durch politische Weigerung und Selbstbereicherung (Politiker wie sonstige Profiteure) zum Narren gehalten – so ergeben sich zwangsweise soziale Auflehnungsmuster. Ein zerbrochenes Ventil ist derzeit auf die Wall Street als symbolischen Ort kapitalistischen Tauschhandels gerichtet. In welcher genauen Form und wie stürmisch es sich auf welchen Personenkreis entladen wird, ist derzeit noch ungewiss. Mit voller Breitseite soll es derzeit die Akteure an Wall Street und mit ihnen die Finanzbranche als Ganzes treffen. Fehlende Jobs, Zwangsversteigerungen und nicht eingetroffene finanzpolitische Veränderungen nach der Bankenkrise 2009 treiben die Mittelschicht auf die Straße. Vorerst wenige, junge, wutgeladene Bürger.

Die Entstehungsgeschichte für OWS kann in ihren Kausalzusammenhängen nur unzureichend rekonstruiert werden. Ein Grund für die plötzliche Auflehnung gegen den Finanzkapitalismus kann die politische Motivierung durch die diesjährigen arabischen Frühlingsrevolutionen sein. Wieder andere leiten sich aus Obamas Kurswechsel ab, der die radikalere Verantwortung sozialer Missstände durch die derzeit geringbesteuerten Reichen einfordert und gleichzeitig die Hintertür für klassenkampfbewusste Amerikaner nicht geschlossen bekommt. Gegen Kampf spricht zunächst von seiner Position her nicht, stünde nur der Wahlkampf 2012 nicht an, aus dem er als Messias der Linken und sozialer Aufrührer mehr als nur Blessuren davontragen würde.

OWS kann aber nur von Erfolg gekrönt sein, wenn es ein zu erreichendes, definiertes Ziel überhaupt gibt, zu schnell verpufft sonst die ausgeladene Wut, gleich der gewaltsamen Proteste Jugendlicher in Londoner Vorstadtgebieten. Belächelt im Nachhinein ob ihrer autodestruktiven Handlungen! Selbst wenn sich die Demonstrierenden darauf verständigen, dass die Wall Street die Fokusgruppe der Proteste bleibt und es diese zu besetzen gilt, so trifft die Wut letztlich die Falschen. Die Dialektik eines sozialen Systems – ohne nun Luhmann heranziehen zu wollen – führt doch gerade dazu, dass Personen an einer Stelle im System agieren und Reaktionen evozieren, deren Kausalität sie gar nicht verfolgen. Deren Motive sind anderer Art. Dennoch ist die Stelle im System für die betreffenden Personen so gestaltet, dass sie kaum umhin kommen, anders zu handeln. Sie handeln also konform, warum sollten sie auch nicht? Warum sollte ein Mitarbeiter eines Finanzinstituts, beschäftigt an der Wall Street, anders handeln, als sich an der Vermehrung von Wertpapieren, Optionen, Zertifikation oder sonstigen Finanzinstrumenten zu versuchen? Dies widerspräche seinem Motiv diametral. Wenn ein Mensch die Wahl hat, ein teures oder billiges Auto zu gewinnen, wird es nicht viele geben, die sich tatsächlich – und zwar unbeobachtet – mit dem billigen zufrieden gäben. Es mag plakativ klingen, aber das Motiv eines Bankers ist eindimensional. Geld vermehren. Er arbeitet nicht sinnstiftend, sondern geldmehrend. Punktum. Die Proteste gehören also nach Washington und nicht an die Wall Street.

Und sie haben einen Gegenentwurf bereitzuhalten! Die Wall Street sind letztlich wir selbst. Jeder Blick auf ein mögliches neues Handy, jeder Ruf nach einem schickeren und noch flacheren Laptop, jeder gierige Blick auf Supermarktschnäppchen, Last-Minute-Angebote oder eigene Portfoliobestände. Optimierendes kapitalistisches Denken sind keine Eigenarten, die nur an der Wall Street gelebt werden, dort findet nur das stellvertretende Theaterstück statt, dessen Drehbuch die Konsumenten selbst schreiben.

Es gibt nur eine Ausgangstür: Verzicht. Endlich! Nicht Mäßigung, sondern Verzicht!

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